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Marburger Tapetenfabrik - Kirchhain

Zu einem der bedeutendsten Familienunternehmen in Mittelhessen gehört die „Marburger Tapetenfabrik. Die lange und wechselvolle Geschichte des Unternehmens verlangt nach einer ausführlichen Betrachtung, aber hier sind dem Autor die Hände gebunden. Ein Teil der Firmenunterlagen mögen während der Bombardierung des Firmengeländes gegenüber dem Güterbahnhof in Marburg verlorengegangen sein. Es kann auch sein, dass kein gründliches Firmenarchiv geführt wurde oder – wahrscheinlicher – dass Unterlagen aus familiären Gründen nicht veröffentlicht wurden bzw. werden.

Sicher ist, dass Johann Bertram Schaefer gelernter Tapezierer und Dekorateur in Marburg war. Nach seinen Lehr- und Wanderjahren, die ihn zu Tapetenhändlern in ganz Europa geführt hatte, war er nach zwei Jahren Wander-schaft 1845 nach Marburg zurückkehrt und hat dort ein Fachgeschäft für Möbel und Innenausstattung in der Oberstadt gründet. 30 Jahre später gründet sein Sohn Johann Konrad Schaefer am Pilgrimstein am Fuße der Oberstadt eine Tapetenfabrik. Zu seiner Zeit ein bedeutendes Industriegebäude. Ein Brand im Jahre 1882 verhindert nicht den Aufstieg zum größten Industriegebiet der Stadt. In dem mehrstöckigen Gebäude dürften schon mehrere Dutzend Mitarbeiter beschäftigt worden sein. Zahlen sind nicht bekannt.

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Von 1922 bis 1956 leitete Bertram Schaefer das Unternehmen, das inzwischen, auch aus logistischen Gründen, ein neues Produktionsgebäude gegenüber dem Güterbahnhof bezogen hatte. Dieser Gebäudekomplex hatte schon ganz andere Dimensionen, wie aus der Zeichnung auf dem Briefkopf ersichtlich ist. Umsätze, Gewinne und Mitarbeiter müssen stark zugenommen haben.

Im Krieg wurde das Werk so stark beschädigt bzw. teilweise völlig zerstört, so dass das Unternehmen nach 1945 seinen Sitz in die nahegelegene Kleinstadt Kirchhain verlegte, wo genügend und preiswerter Baugrund zur Verfügung stand.

Mach dem Krieg führt Schaefers Schwiegersohn, Walter Eitel, ab 1946 bis 1980 die „Marburger Tapetenfabrik J.B. Schaefer GmbH & Co. KG“ als geschäftsführender Gesellschafter. Er baut das Unternehmen weiter aus und sichert mit einer Reihe von technischen Neuerungen, wie der Erfindung der Textiltapete, der Profiltapete und rapportlose Tapeten, die Führungsposition der Tapetenproduktion. Der Sohn von Walter Eitel, Ullrich Eitel hatte ein Technikstudium absolviert und anschließend in die USA gereist, seinerzeit Deutschlands großer Absatzmmarkt.

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Während Eitel die Marburger Tapetenfabrik nach Kirchhain nahe Marburg verlegte und eine neue, moderne Produktionsanlage errichten ließ, wurden in Marburg in den alten, z.T. neu aufgebauten bzw. nicht zerstörten Räumlichkeiten weiter Tapeten unter der Firma "HETA (Hessische Tapetenfabrik Schaefer GmbH & Co. KG) entwickelt und produziert. Geschäftführer war Rolf Wilfried Schäfer, ein Nachfahrre von Bertram Schäfer. Die Rechtsverhältnisse beider Unternehmen zueinader konnten hier nicht ermittelt werden. Die Heta wurde später offiziell als "Tochterunternehmen" der Marburger Tapetenfabrik bezeichnet. Nach seiner Rückkehr aus den USA, wo Eitel eine Vertriebsorganisation aufgebaut hatte, nahm sich Eitel der Heta an, schloss das Unternehmen und verlagerte die Produktion vollständig nach Kirchhain. Die veralteten Maschinen wurden, nach Aussage eines ehemaligen Mitarbeiters, eingeschmolzen bzw. verschrottet. Die Hessische Tapetenfabrik Schaefer Gmbh&Co KG wurde Ende der 1980er Jahre aus dem Handelsregister gelöscht.

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1979 sollte der ältere Sohn von Walter Eitel das Unternehmen übernehmen. Er hatte Betriebswirtschaft studiert. Aber sein jüngerer Bruder Ullrich Eitel, der Maschinenbau studiert hatte, setzte sich nach Erbstreitigkeiten durch, zahlte seinen Bruder aus und wurde mit 31 Jahren Inhaber und Geschäftsführer in der fünften Generation der Tapetenfabrik. Vielleicht ein Glücksfall für den Betrieb, denn Ullrich Eitel sprühte von technischen, aber auch künstlerischen Ideen. Eitel konzentrierte sich auf das gehobene Sortiment, denn die Zeit war vorbei, in der massenweise Raufasertapete an die Wände geklebt wurde. Architekten und Innenausstatter entdeckten die Tapete als Gestaltungselement für Räume neu. Eitel engagierte Künstler. So arbeite Janosch als angestellter Zeichner für Kinderzimmertapeten. Im Jahre 2000 engagierte der den Textildesigner Ulf Moritz. Sie schufen Tapeten mit anderen Elementen, z.B. mit Strass-Steinen oder Schiefergranulat. Die Haptik war ihn wichtig, denn Menschen wollen eine Tapete nicht nur anschauen, sondern auch anfassen. Hierbei hatte der Kreativdirektor Dieter Langer einen erheblichen Anteil. Eine weitere künstlerische Zusammenarbeit erfolgte mit dem Kult-Designer Luigi Colani. 2007 und 2012 entwarf er Tapetenmotive, die von Wellen und Reflexionen des Wassers inspiriert sind. Colanis besonderer Bezug zu China und Japan förderte auch den Export von Tapeten in diese Länder. Auch die britisch-irakischen Stararchitektin Zaha Hadid schuf ungewöhnliche Motive, Variationen organischer Formen in dreidimensionaler Darstellung in Digitaldruck.

Weitere Künstler waren u.a. Niki de Saint Phalle, die Maler Paul Wunderlich und Jean Tinguely. Eine zunächst verrückt erscheinende Idee von Ullrich Eitel sollte zu einem Exportschlager werden. Eitel gewann den pompösen Modedesigner Harald Glööckler für eine Zusammenarbeit. Er schuf mehrere Dutzend Motive mit Kronen-, Kordeln- oder Flügelmuster. Besonders die Russen lieben solche schweren Motive und nach einer Messe in Moskau kommt die Tapetenfabrik kaum mit den Lieferungen nach. Selbst in Baumärkten sind jetzt Tapeten aus Kirchhain begehrt. Etliche Tapeten dieser Designer wurden in limitierter Anzahl gedruckt.

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2004 wurde die Marburger Tapetenfabrik Finalist bei Hessen Champion, einer bedeutenden Hessischen Auszeichnung für innovative Unternehmen, sowie zahlreiche Design-Auszeichnungen, z.B. Großer Preis des Mittelstandes, mehrfach den German Design Award, Innovationspreis Architektur + Textil Objekt u.a.m.

Technisch wurden in der Zeit von Ullrich Eitel viele neue Tapeten entwickelt. Neben der erwähnten: 1990 eine überstreichbare Venyltapete auf Vliesbasis (Patent Decor), 1993 eine ökologische Strukturtapete, 1995 eine Knitterlook Tapete, 1996 die EMV-Tapete, die Räume gegen Elektrosmog und das Abhören sichert und 2012 die erwähnte Tapete mit Strass- oder Perlen und 2015 die Leuchtende Tapete (Art Luminaire).  Eitel experimentiert auch mit OLED (organische Leuchtdioden-Technologie) und anderen modernen Leuchtverfahren, die aber wegen des hohen Aufwandes und Preises noch nicht in Serie gehen.

Das Unternehmen produziert jährlich ca. 10 Millionen Tapetenrollen. Der größte Teil wird in ca. 80 Länder exportiert. Die wichtigsten Exportländer sind neben Europa die USA, China und Russland.

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Wie sich aber das Russlandsgeschäft während des Überfalls Russlands auf die Ukraine weiter entwickelt, wird die Zukunft zeigen. Die aus diesem Konflickt entstandene Energiekrise, besonders dem Mangel an Gas zum Heizen, brachte die Marburger Tapetenfabrik mit der Entwicklung einer Weltneuheit. Hierbei handelt es sich um eine mit patentierten Alu-Pigmenten der Firma Eckhart versehhene Design-Tapete mit dem Namen "Celsius", die Wärmestrahlung reflektiert. Aus akzeptablen 19° werden durch diese Tapete 21° behagliche Wärme. Damit kann man einen Teil der gestiegenen Heizkosten auffangen. Diese Vliestapete sorgt auch im Sommer für angenehme Temperaturen, weil sie die Wärmestrahlung der Sonne teilweise reflektiert.

Diese Tapete kam gerade rechtzeitig zum 75. Geburtstag des Firmeninhabers Ullrich Eitel auf den Markt.

Die Innovationskunst der Marburger Tapetenfabrik scheint keine Grenzen zu haben. Mit Pressemitteilung stellte das Unternehmen am 17. März 2023 eine Lehmtapete vor, die nach neuen patentierten Verfahren hergestellt wird. Lehm ist als Baustoff uralt und hat eine Fülle positiver Eigenschaften. Der Lehm stammt aus einer unweit entfernten Lehmgrube, so dass diese Tapete allen umweltfreundliche Eigenschaften hat, die viele Bürger sich heute wünschen.

Das Unternehmen hat ca. 365 Mitarbeiter und erwirtschaftet einen Umsatz von ca. 85 Mio. Euro. (Stand 2017)

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