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Gail'sche Tonwerke, Gießen

Ansprechende Baukeramik wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts massenhaft benötigt. Der Tabak- und Zigarrenfabrikant Wilhelm Gail, wohl der reichste Mann in Gießen, beteiligte sich an einer Dampfziegelei gegenüber seiner Tabalkabrik. Er ließ die Herstellung von Verblendkeramik wissenschaftlich untersuchen und produzierte Baukeramik von so hohe Qualität, dass sie in alle Welt verkauft wurde. Mit dem Rückgang der Zigarrennachfrage verkaufte er das Keramikwerk, das 2018 den Betrieb einstellte. Geblieben ist das Zweigwerk in Brasilien, das dort Marktführer ist.
Der Kommerzienrat Wilhelm Gail aus Gießen beteiligte sich 1890 finanziell an einer neuartigen Dampfziegelei des Maurermeisters Wilhelm Steinbach in Gießen. Steinbach geriet bald in finanzielle Schwierigkeiten. 1891 übergab er das Werk an Wilhelm Gail, der die außergewöhnlichen Eigenschaften des Tons im Gießener Becken erkannte. Dieser war sehr feinkörnige und gleichmäßige beschaffen, konnte bei Temperaturen bis 1500°C gebrannt werden und die Scherben waren frost-, säure- und laugenbeständig. Wegen ihres hell cremefarbenen Aussehens wurden sie schnell bei Architekten und Bauherren beliebt.

   Gail ließ durch den Ziegelei-Ingenieur Otto Bock aus Berlin die Werksanlage neu konzipieren, dessen Ausführung sein erfahrener Ingenieur Wagenschein leitete. Es wurde ein dreistöckiges massives Ringofentrockengebäude und eine Drahtseilbahn zur Ton- und Sandbeförderung errichtet. Das Unternehmen beschäftigte im ersten Jahr bereits 47 Arbeiter, einen Angestellten und einen Aufseher.

   Das chemische Labor für Tonindustrie von Prof. Seger in Berlin erprobte im Auftrag von Gail Glasur- und Farbgebung und untersuchte Tonsorten und mit der DEGUSSA wurden ausführliche Glasurversuche vorgenommen. Verbunden mit genaueren Brennverfahren erreichte man eine hervorragende Qualität von Ziegel und Glasur.

   1892 stellte Gail den Ingenieur Raimund Wagenschein als Betriebsleiter ein. Wagenschein ließ eine neue Drahtseilbahn für die Tonförderung errichten, Kühlteiche anlegen und eine Trinkwasserquelle fassen und zahlreiche Maschinen anschaffen. Bis das Werk 1919 elektrischen Strom erhielt behalf man sich mit Petroleumlampen und Spiritusglühlicht.

   Die Hauptprodukte des Werkes waren Verblendsteine, schwarz glasierte Dachziegel, Drainageröhren und Steine für den Karminbau. Mit dem amtlichen Prüfzeugnis der „Königlichen Prüfzeugnisstation“ für Baumaterialien erfolgte die Übernahme öffentlicher Baumaßnahmen, so die ersten Großaufträge von 750.000 Verblendsteinen für das Landeskrankenhaus in Kassel und 1897 für das Volksbad in Gießen.

   1893 hatte das weiter modernisierte und ausgebaute Werk 111 Mitarbeiter. Einmalig war das Übereinander-stellen aller Auf- und Verarbeitungsmaschinen, die eine nahezu automatisierte vertikale Verarbeitung aller Produktionsschritte ermöglichte und die fein regulierbare Trockenanlage über dem Ringofen. Von dem Werk wurde ein Modell erstellt, dass 1893 auf der Weltausstellung in Chicago und anderen Orten gezeigt wurde und das dann im Deutschen Museum in München verblieb.

   Um Neuerungen und Verbesserung der Produktionsprozesse kennenzulernen, unternahmen Wagenschein und führende Mitarbeiter Studienreisen in ganz Europa, an denen teilweise auch Gail selbst teilnahm. Vorschläge der Mitarbeiter wurden sorgfältig geprüft und im Falle der Umsetzung honoriert.

   Seit 1901 arbeitete die Fabrik mit der Künstlerkolonie in Darmstadt zusammen und lieferte glasierte und unglasierte Steine für mehrere Villen und dem „Ernst-Ludwig-Haus“, beteiligte sich an Ausstellungen und erhielt ein Anerkennungsschreiben und eine Medaille des Großherzogs. Größere Lieferungen von glasierten Steinen gingen an die Stadt Frankfurt, an die Stadt Darmstadt für den „Hochzeitsturm“ und nach Bad Nauheimer Sprudelhof. Anerkennungen und Preise aus aller Welt bewiesen, dass die Gail’schen Tonwarenwerke zur absoluten Weltspitze gehörten.

   Die seit 1904 produzierten dünnen Verbendplättchen wurden nach St. Petersburg, Moskau, Göteborg, Deventer (Niederlande) und Brüssel exportiert. Die Hauptnachfrage für den Exportes kam bis zum Ersten Weltkrieg aus Russland. Gleichzeitig wurde die Produktion von Tunnelklinkern aufgenommen, die in bedeutenden Mengen für die Verblendung von Eisenbahntunnel von der Reichsbahn geordert wurden.

   Als einer der ersten Keramikhersteller entwickelte Gail die Schwimmbad-Keramik mit einem farblich umfangreichen Programm an glasierten Rinnsteinen, Platten, Beckenrandsteinen, doppelseitig glasierte Zellwandsteine und Einstiegstreppen.

Die zeitgenössische Architektur entdeckte die ästhetische Seite der Keramik. Der Bauhaus-Kreis, vor allem Walter Gropius, nutzte ihre Ausdrucksfähigkeit.

   Bei Kriegsanbruch musste das Werk mit seinen 258 Mitarbeitern 1914 geschlossen werden. Das Hauptabsatz-gebiet Russland fiel vollkommen weg.

   1920 wurde daher das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und firmierte fortan unter „Wilh. Gail’sche Tonwerke AG“. Den Aufsichtsratsvorsitz übernahm Geheimrat Dr. hc. Wilhelm Gail, Stellvertreter wurde sein Sohn Dr. jur. Georg Gail. Den Vorstand führte Direktor Raimund Wagenschein an. 1919 waren 218 Mitarbeiter beschäftigt, jedoch wirkten sich die Revolutionen der Weimarer Republik negativ auf die Arbeitsmoral aus. Ständigen Lohnstreitigkeiten, Prozesse und die Inflation führten 1922 zur Stilllegung des Werkes.

   Ende 1923 wurde der Betrieb wieder aufgenommen. Nach dem Tode von Dr. h.c. Wilhelm Gail übernahm sein Sohn Dr. jur. Georg Gail die Nachfolge. Er setzte den Modernisierungsprozess fort. Sein erster Großauftrag orderte die Stadt Frankfurt für die neuerbaute Großmarkthalle.

   1930 wurden endlich alle Geräte und Anlagen elektrisch betrieben. Ab 1933 standen staatliche Aufträge für Wehrmachtsbauten und großindustrielle Anlagen im Vordergrund. Mit ca. 275 Mitarbeitern wuchs der Betrieb auf ein neues technisches Höchstmaß. Die Ringöfen wurden auf die Beheizung mit Gas umgestellt und neue Pressen, Transport- und Antriebsanlagen angeschafft.

   Ab Kriegsausbruch im Jahre 1939 wirkte sich die Rohstoffbewirtschaftung negativ aus. Die Wehrmachtsbestel-lungen konnte den zivilen Rückgang immer weniger ausgleichen.

   1944 wurden durch einen Luftangriff fast alle Anlagen zerstört. Das Werk konnte aber bereits im Jahre 1947 die Produktion langsam aufnehmen.

   Nach dem Tode von Dr. Georg Gail übernahm 1950 sein Schwiegersohn Dr. Walter Rumpf, unterstützt von dem Keramikfachmann Walter Pohl und später von dessen Sohn Fritz Pohl, den weiteren Ausbau und Modernisierung der Produktionsanlagen. Gail expandierte, besaß bald sechs Werke, davon eines seit 1972 in Brasilien.

   Mit dem Bau von Großprojekten in den 60er und 70er Jahren war auch wieder hochwertige Architekturkeramik gefragt. Ein Großauftrag kam u.a. für die Verblendung des neuen Elbtunnels.

1974 beschäftigte die sechs Produktionsstätten, von denen das Werk in Brasilien zunehmend an Bedeutung gewann, ca. 1.500 Mitarbeiter und erzeugten nahezu 200.000 t Keramik pro Jahr. Niederlassungen in vielen Ländern und Firmenbeteiligungen in Deutschland, Brasilien und Südafrika festigten das Familienunternehmen.

   Bis 1991 hatte Dr. Michael Rumpf Gail zehn Jahre lang den Posten des Vorstandsvorsitzenden der Firma Gail Architekturkeramik inne. Er gründete 1972 in Brasilien eine Gail-Tochtergesellschaft, die bis heute zu den Marktführern ihrer Branche gehört.

   Ende der 1980er Jahre geriet das 1812 in Gießen als Zigarren- und Schnupftabakfabrik gegründete Unternehmen in finanzielle Schwierigkeiten. Daraufhin wurde der Keramikbereich mehrheitlich von dem führenden japanischen Keramikhersteller Inax übernommen, die wenig später mit der Boitzenburg AG in Mecklenburg verschmolz. Die Boizenburg Gail Inax AG musste 1997 Konkurs anmelden, von der am Stammsitz rund 350 Mitarbeiter betroffen waren. Aus der Konkursmasse wurde 1999 der Gießener Kernbereich der Boizenburg Gail Inax AG von der Staloton Keramik GmbH & Co. KG aus Velpe/Westerkappeln bei Osnabrück übernommen.

   Im Jahre 2002 übernahm die Griechische Piräus-Bank mit dem Unternehmer Iordanis Papassimeon Teile der Konkursmasse. Das Unternehmen firmierte als Gail Architektur-Keramik GmbH. Die Fliesen wurden jedoch zum großen Teil nicht mehr in Gießen produziert, sondern von anderen deutschen Werken bezogen. Trotz einem Großauftrag für die Asien-Spiele im Jahre 2006 und das olympische Schwimmbecken in Peking im Jahre 2008 geriet das Unternehmen in wirtschaftliche Turbulenzen und 2011 zur Änderung der Firma durch Iordanis Papassimeon in die Gail Ceramics International GmbH. Papassimeon wurde geschäftsführender Gesellschafter mit alleinigem Vertretungsrecht. Ab 2015 vertrat er das Unternehmen zusammen mit unterschiedlichen Prokuristen. Trotz aller Bemühungen konnte das Unternehmen an die alte Tradition nicht mehr anknüpfen. Nachdem ab 2012 die Verluste ständig zunahmen und das Jahr 2016 mit einem Defizit von ca. 180.000,00 EUR abschloss, musste sich Papassimeon 2017 zu einem Verkauf des größten Teils des Betriebsgeländes entschließen. Sein Plan, einen Teil weiter zu nutzen, scheiterte, so dass das Unternehmen im Ende 2017 endgültig aufgegeben wurde.

   Nach mehreren Interessenten übernahm 2018 die Intown Gruppe mit Sitz in Berlin das Betriebsgelände. Ein endgültiger Nutzungsplan liegt derzeit (Oktober 2018) nicht vor.

 

Von den Betriebsgebäuden ist vor allem das große Brennofengebäude, das alte Laboratorium und mehrere sonstige Betriebsgebäude, die langsam dem Vandalismus anheimfallen. Das zuletzt als Verwaltung dienende Gebäude wird von einem Fitnessstudio genutzt.

 

 

 

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