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Geschichte von Industriebetrieben in Mittelhessen-
Eine Webseite des "Mittelhessen e.V". des RP Gießen und des "Netzwerkes Industriekultur Mittelhessen"
Louis Seidel eröffnet 1830 in der Oberstadt von Marburg eine kleine Zinngießerei. In ihr fertigt er Gegenstände des Alltagsbedarfs, wie Schlüssel, Zinnlöffel und andere Artikel. Zinngießen war ein leicht zu beherrschendes Gewerbe, Konkurrenzbetriebe gab es genügend. Um den hohen Konkurrenzdruck auszuweichen, stellte Louis Seidel ab 1850 zusätzlich chirurgische Zinnspritzen her und sein Sohn, Johannes Matthias Seidel, goss Zinnsoldaten, die er farbig bemalte. Sinnsoldaten waren in der Zeit ein beliebtes Spielzeug, konnte man damit doch ganze Schlachten darstellen.
Nach dem deutsch-französischen Krieg und der Bildung des Deutschen Reichs erwirbt Johann Matthias Seidel 1871 ein ca. 5000 m2 großes Grundstück, den „Saurasen“, einer Fläche auf der Lahninsel nördlich der Elisabethkirche. Dieses Grundstück war klug gewählt, da es dicht am Bahnhof der Main-Weser-Strecke lag, die seit gut 20 Jahren in Betrieb war. Die dafür von der Bahnhofstraße abzweigende neue Straße erhielt den Namen „Rosenstraße“, da Johann Seidel ein ortsbekannter Rosenzüchter war. (Seinerzeit wurden Unternehmer, die Betriebe und damit Arbeitsplätze schafften, noch geehrt).
Die dritte Generation beginnt mit Heinrich Seidel, der nach einer praktischen und kaufmännischen Ausbildungszeit 1900 in den Betrieb eintrat. Mit einer 6 PS Dampfmaschine beginnt er, die Werkstatt zu mechanisieren; weitere und größere folgen bald und Seidel bekommt dadurch auch elektrischen Strom. Den brauchte man nicht nur zum Antrieb der Maschinen, man hatte auch in den Wintermonaten keine Einschränkungen mit der Arbeitszeit.
Heinrich Seidel erweiterte das medizinische Programm. Er wird 1911 Geschäftsführer und treibt bis zu Beginn des Ersten Weltkrieges den Export voran, wobei er gute Geschäftsbeziehungen nach Russland und England pflegte.
Das Produktionsprogramm wird zwei Jahre später um weitere Krankenpflege- und Pharmaartikel erweitert, wie Inhalationsapparate, Veterinärspritzen, Nasenzerstäuber und Ventile für chirurgische Gummiartikel. Auch Wärmflaschen- und Eisbeutelverschlüsse gehören zum Programm.
Als ersten Massenartikel fertigt Seidel nach dem ersten Weltkrieg einen Spritzkorken, der die tropfenweise Entnahme des Inhalts erlaubt, z.B bei Arzneimittel. 1925 beläuft sich die Tagesproduktion dieses Spritzkorkens auf 42.000 Stück. Der größte Teil davon wird exportiert.
Inzwischen lieferte die Glasindustrie Medikamentenfläschchen mit Tropfverschluss, so dass die Nachfrage der Spritzkorken stark zurückging. Als Ersatz werden ab 1925 die Produktion von Metallschraubverschlüssen für 4711, echt Kölnisch-Wasser aufgenommen. Die Firma Johann Farina in Köln nimmt täglich bis zu 20.000 Stück davon ab. Dieses „Eau de Cologne“ Duftwasser wurde weltweit das berühmteste Parfüm.
1927 unternimmt Heinrich Seidel eine Studienreise in die USA, um sich durch Besichtigung von 20 wichtigen Betrieben mit modernen Produktionstechniken, vor allem der Massenproduktion, vertraut zu machen. Solche Studienreisen in die USA, dem führenden Land moderner Produktionstechniken, waren von deutschen Unternehmen üblich, denn man zeigte gerne, was man in den USA kann.
Angespornt von den Eindrücken in den USA übernimmt Heinrich Seidel den Konkurrenzbetrieb „Traugott Weiß“ in Schlesien, verkauft ihn nach 10 Jahren aber wieder.
Kurz vor Ende des Krieges werden durch einen Luftangriff am 12. März 1945 viele Anlagen, das Lager und Rohstoffe in der Rosenstraße zerstört. Der Wiederaufbau dauert zwei Jahre. Dazu kam, dass der Sohn von Heinrich Seidel, Hans Seidel, der in der Familienfolge die Nachfolge antreten sollte, den Zweiten Weltkrieg aber nicht überlebte.
Kaum waren die Kriegsschäden beseitigt, setzt ein außergewöhnliches Hochwasser im Winter 1946 die dicht an die Lahn gebaute Fabrik 1,25 m unter Wasser, so dass wieder große Schäden zu beklagen sind.
Nach Beseitigung dieser Schäden kommt es schnell wieder zur Produktion, die mit steigendem Wohnstand Fahrt aufnimmt.
1952 ist die Unternehmerfamilie Seidel nicht mehr in der Lage, den Betrieb mit eigenem Nachwuchs weiterzuführen. Der Kaufmann Herrmann Ritzenhoff tritt als Kommanditist und später als geschäftsführender Komplementär in die KG ein.
Seidel beginnt sich von nun an mehr auf die Kosmetikindustrie zu spezialisieren. Das Schwergewicht liegt auf glanzeloxierten Aluminiumteilen, wie z.B. Schraubkapseln, Überkappen, Zerstäuberhülsen, Kosmetiketuis und Lippenstiftmechanismen. Zusätzlich bietet Seidel Dekorationen mit Kunststoffspritzguss, Siebdruck und Heißprägungen an.
Der Konkurrenzkampf in der Kosmetikindustrie, vor allem die Zunahme der Fälschungen, waren 1960 der Anlass zur Entwicklung eines fälschungssicheren Flaschenverschlusses, dem „Seidel-Seal“. Lizenznehmer sind die Hersteller von Kosmetika und Getränken.
1963 stirbt Heinrich Seidel, kurz darauf seine Ehefrau Ida. Neue Kommanditistin wird ihre Tochter Helene Jaster. Im selben Jahr wird eine neue Produktionshalle gebaut.
Der alte Spritzkorken wird in Deutschland kaum noch nachgefragt. Die gesamte Anlage wird nach China verkauft und chinesische Arbeitskräfte in Marburg geschult.
1972 geht die Ära Seidel endgültig zu Ende, denn Herrmann Ritzenhoff übernimmt die Firma und zahlt die Inhaberfamilie Seidel aus.
Da die Umsätze durch den zunehmenden weltweiten Wohlstand rasant steigen, wird 1978 das Betriebsgelände erweitert und ein großer Neubau errichtet.
1988 wird die „Seidel Inc.“ In den USA nähe New York, und damit die erste große Auslandsvertretung, eröffnet. Michael Ritzenhoff, Sohn von Herrmann Ritzenhoff hilft den Betrieb mit aufzubauen.
1989 erhält Seidel für seine vorbildliche Umweltpolitik den Umweltpreis des Landes Hessen. Besonders umwelt-freundliche Eloxaltechnik und Abwasseraufarbeitung waren für den Preis ausschlaggebend.
Der praktizierende Mediziner Dr. Andreas Ritzenhoff tritt in die Marburger Firma mit ein. Er übernimmt 1992 die Geschäftsführung und baut das Kundengeschäft weiter aus. Durch neue Vertriebsbüros in Paris und New York leitet er die Firma von Unterlieferanten zum Direktlieferanten der Markenartikelhersteller aus.
Kurz vor der Jahrtausendwende nimmt Seidel ein zweites Werk in Dreihausen (Gemeinde Ebsdorfergrund) in Betrieb, da der innerstädtische Platz in Marburg sich nicht erweitern lässt. Aber auch diese Erweiterung reicht auf Dauer für die weitere Diversifikation und das gestiegene Aufkommen, vor allem für eine zentrale Logistik nicht aus.
So entsteht 2004 in Frohnhausen südlich von Marburg eine völlig neu eingerichtete Produktionsstätte. Sie hat den weiteren Vorteil, dass sie unmittelbar an ein Autobahnnetzt angeschlossen ist, was die Logistik sehr erleichtert. Das Gebäude wird mit einem Architekturpreis ausgezeichnet.
Ab 2005 bietet Seidel eigene Designentwicklungen an, die unter dem Markennamen Carus vertrieben werden, z.B. Kerzenhalter, Raumdüfte und Vasen. Wichtig ist die ab 2006 vereinbarte Zusammenarbeit mit den heimischen Universitäten zur Erforschung der Oberflächen-Nanotechnik um neue Optiken und Funktionen im Aluminium zu erschaffen. So sollen Verpackungen nicht nur gut aussehen, sondern auch umweltfreundlich entsorgt bzw. abgebaut werden können. Seidel wird damit zum führenden Hersteller von den sog. Monomateriallösungen.
2013 wird in Frohnhausen eine baugleiche zweite Produktionshalle errichtet mit Spritzguss- und Montagemaschinen. Es entsteht ein neues Logistikzentrum. Auch das Werk Dreihausen dient nun hauptsächlich als Logistikfläche. Der Gebäudekomplex misst 72 x 130 Meter.
2014 begibt sich Seidel nach Anstoß durch die Möbelindustrie auf den boomenden Markt für LED’s, die in Frohnhausen produziert werden. 2019 wird diese Produktion aus marktpolitischen Gründen wieder eingestellt. An den drei Standorten sind etwa 700 Mitarbeiter beschäftigt.
Um den florierenden Markt in Südamerika zu bedienen, errichtet Seidel 2016 in Sao Paulo (Brasilien) ein weiteres Vertriebsbüro.
2019 erfolgte die Zertifizierung in Umweltmanagement (ISO 14001) und Arbeitssicherheit (ISO 45001).
In der Folgezeit erhält Seidel Auszeichnungen im Bereich Umwelt, Arbeit und Menschenrechte. Für einen an Leukämie erkranken Mitarbeitersohn erbringen die Beschäftigten Überstunden und spenden den Betrag. Seidel wird durch den Hessischen Finanzminister ausgezeichnet. Der Umweltgedanke und die Nachhaltigkeit der Verpackungen haben in Bezug auf Recycling und Kundenkommunikation einen zunehmenden Stellenwert.